In einer Welt, in der Metalle das tägliche Leben prägen – von Brücken über Autos bis hin zu Hightech-Geräten – rückt die Bedeutung der Materialforschung und Materialprüfung besonders in den Fokus. Ein prominentes Beispiel hierfür ist der plötzliche Einsturz der Dresdner Carola-Brücke vor einem Jahr. Potenzielle Schwachstellen frühzeitig zu erkennen – das gehört unter anderem zum Aufgabenfeld der Metallographie, die auch an der Hochschule Aalen gelehrt wird. Vor genau 70 Jahren erschien die 1. Auflage des heutigen Standardwerks „Metallographie“ von Hermann Schumann. In Fachkreisen wird es auch liebevoll „Metallographen-Bibel“ genannt und ist ein unverzichtbares Nachschlagewerk für Forschende, Ingenieure und Studierende. Mitherausgeberin und Autorin der 16. Auflage ist Gaby Ketzer-Raichle, die an der Hochschule das Materialographielabor leitet. „Das ist eine große Ehre und die Krönung meiner Berufslaufbahn“, strahlt die 63-Jährige.

Bunte Gefügebilder

848 Seiten und 2,5 Kilo schwer: Die 16. Auflage der „Schumann Metallographie“, die kürzlich zum 70-jährigen Jubiläum erschien, ist ein ganz schön dicker Wälzer. „Das war wahnsinnig viel Arbeit – gut, dass ich das im Vorfeld nicht wusste“, sagt Gaby Ketzer-Raichle und lacht herzlich. Stolz streicht sie über das Buchcover mit den bunten Gefügebildern. Fast drei Jahre hat sie gemeinsam mit dem Mitherausgeber Professor Dr. Heinrich Oettel an der Aktualisierung des Fachbuchs gearbeitet und es als erste weibliche Autorin zusammen mit Kollegen aus dem  Institut für Materialforschung der Hochschule Aalen (IMFAA) um weitere Kapitel zu Themen wie Schweißverbindungen, Magnet- und Batteriewerkstoffe, Machine Learning, Additive Fertigung oder der Hochtemperaturmikroskopie ergänzt.

„Ein Höhepunkt meines Berufslebens“

Hermann Schumann (1924-1989) war ein renommierter Experte auf dem Gebiet der Metallographie und Metallkunde und legte mit seinem Werk einen Grundstein für die moderne Materialanalyse und -behandlung. Seine umfassende Darstellung der mikroskopischen Strukturen von Metallen und Legierungen sowie die detaillierten Anleitungen zur Untersuchung und Bewertung haben die Entwicklung der Metallkunde maßgeblich beeinflusst. Der „Schumann“ hat auch Gaby Ketzer-Raichle ihr ganzes Ausbildungs- und Berufsleben begleitet. Dass sie selbst einmal als Herausgeberin auf dem Titel stehen würde, hätte sie sich als junge Metallographin niemals träumen lassen. „Es ist wirklich eine sehr große Ehre und ein Höhepunkt meines Berufslebens“, freut sich die gebürtige Stuttgarterin.

Lieber Rumschrauben statt Häkeln

Über die Ästhetik von metallischen Strukturen kann Gaby Ketzer-Raichle noch genauso schwärmen wie zu ihren Anfangszeiten als Metallographin: „Das ist fast wie Kunst und wird nie langweilig. Es ist wie eine kleine Wunderwelt, von der man nichts ahnt, wenn man ein Stück Metall in den Händen hält. Und dann wirft man einen Blick durchs Lichtmikroskop und denkt ‚Wow!‘“ Nach ihrem Abitur wusste sie zunächst nicht so richtig, wohin die berufliche Reise später einmal gehen sollte. Aber dass es ein technischer Beruf sein sollte, war von Anfang an klar. „Ich habe schon als Kind gerne rumgeschraubt, Sachen auseinandergenommen und mich mit dem Märklin-Metallbaukasten beschäftigt, den mir mein Großvater geschenkt hatte“, erinnert sich Ketzer-Raichle und fügt schmunzelnd hinzu: „Werken in der Schule war mir immer lieber als das blöde Häkeln im Handarbeitsunterricht.“ Als sie dann das Berufsblatt über Metallographie in die Hände bekam, wusste sie: „Das ist genau das, was ich machen will.“

Den Dingen auf den Grund gehen

Ihre Wahl hat die fröhliche Frau mit den dunkelbraunen Locken nie bereut. Die Metallographie sei ein äußerst vielseitiges und spannendes Fachgebiet – von der Qualitätssicherung in der Produktion metallischer Bauteile über die Forschung und Entwicklung neuer oder verbesserter Werkstoffe bis hin zur Schadensanalyse. Zudem ist Metallograph ein gefragter und krisensicherer Beruf, der von Frauen und Männern gleichermaßen ausgeübt wird. „Voraussetzungen sind die Freude am Arbeiten mit technischen Geräten und die Neugierde, Dingen auf den Grund gehen zu wollen“, sagt Ketzer-Raichle. Nach ihrer Ausbildung arbeitete sie zunächst in der Industrie, bevor sie an das Max-Planck-Institut für Metallforschung zurückkehrte und mit nur 28 Jahren selbst angehende Metallographinnen und Metallographen ausbildete. „Ich war kaum älter als meine Schülerinnen und Schüler, das war manchmal schon ein bisschen seltsam“, sagt die heute 63-Jährige und lacht, „aber es hat mir sehr viel Spaß gemacht.“ Und ihr Wissen, das sie in all den Jahren angesammelt hat, weiterzugeben, genauso wie ihre große Begeisterung, macht ihr auch heute noch große Freude.

Fingerspitzengefühl

Seit 2014 ist Ketzer-Raichle an der Hochschule Aalen am IMFAA tätig. Dort leitet sie das Materialographielabor, unterweist die Forschenden im Labor sowie am Mikroskop und unterstützt Vorlesungen und Praktika zur Metallographie. Auch an der Weiterentwicklung des Studienschwerpunkts „Materialographie“, der klassische Metallographie mit Ingenieursfächern vereint und deutschlandweit der einzige seiner Art ist, war Ketzer-Raichle maßgeblich beteiligt. 2019 wurde sie gemeinsam mit SmartPro-Forscher Dr. Timo Bernthaler mit dem Metallographiepreis der Deutschen Gesellschaft für Materialkunde ausgezeichnet. „Ich liebe es, in den Metallstrukturen zu lesen“, sagt Ketzer-Raichle begeistert. „Jede Probe hat ihre eigene Geschichte – von ihrer Herstellung bis zu den Belastungen, denen sie ausgesetzt war.“ Unter all ihren verschiedenen Tätigkeiten, die sie ausübt, sitzt die Frau mit dem Blick fürs Detail und dem Fingerspitzengefühl nach wie vor am liebsten vor dem Mikroskop. „Für mich ist jeder Arbeitstag eine kleine Entdeckungsreise“, sagt Ketzer-Raichle vergnügt.

Fotohinweis:

Auch nach über 40 Jahren kann sie sich jeden Tag aufs Neue für die Vielfalt metallischer Strukturen begeistern: Gaby Ketzer-Raichle leitet das Materialographielabor und ist Mitherausgeberin der aktuellen Ausgabe der „Schumann Metallographie“ – sozusagen die „Bibel“ für Metallographen und Materialkundler. Foto: © Hochschule Aalen | Christiane Görtz